Vision einer lebendigen Stadt

Eine Vision für den Entwicklungsschwerpunkt (ESP) Thun Bahnhof die als Masterthesis Architektur entstanden ist. Dabei sind die einzelnen städtebaulichen Elemente als Möglichkeiten zu sehen, nicht als Dogmen. Sie dienen der Diskussion, denn dies ist die Hauptintention der Arbeit: eine Aufforderung zum Stadtmachen und Ausloten wie wir uns unser Thun in Zukunft vorstellen. Stadt geht uns alle etwas an!

Bilder und Texte: Jürg Bührer


Leitidee 0

Aufbauen auf Thuner Kultur

Im ESP Thun Bahnhof überlagern sich Gegensätze und Kontraste. Etwa der hektische Bahnhof neben dem Park auf der Landzunge, die Zwischennutzungen im Gebiet Rosenau und die angrenzenden Einfamilienhausquartiere, der Gemeinschaftsgarten im Aarefeld inmitten der Innenstadt, die privaten Flussanstösser auf den Inseln und die historische Bahnhofsituation im Areal Scherzligen. Diese Wirklichkeiten gilt es zu erkennen, zu anerkennen und daraus ein transformiertes Fragment mit gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Mehrwerten zu gestalten – mit Einbezug der örtlichen Akteure und deren gemeinsamen kulturellen Hintergrund. Örtliche Akteure heisst Stadtplaner, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Kultureller Hintergrund meint einen demokratischen Prozess, bei dem diskutiert und verhandelt wird. Die Vision und der skizzierte Prozess zielen auf Mehrwerte, die sich auf die ganze Stadt auswirken:
– kulturelle Identifikation
– kulturelle Praxis (Baukultur)
– kulturelle Vielfalt
– (sozio)kulturelle Kohäsion
– kulturelle Infrastruktur


Leitidee 1

Durchlässiger Flussraum

Der Flussraum mit der Aare ist für Thun charakteristisch. Einst wurden die Touristen mit kleinen Booten um die Inseln manövriert, das Ufer war damals zugänglich. Der Aareraum hat seither nicht an seiner Anziehung verloren, doch die Ufer sind nicht überall zugänglich. Dieses Defizit wird aufgenommen und zum zentralen Thema des Projekts. Der öffentliche Raum führt an jeder Stelle ans Wasser. Die heute privaten Inseln werden öffentlich, die Ufer miteinander verbunden. Es entsteht ein grüner Flussraum, der als grosser, verbindender Park funktioniert. Verbindend nicht nur durch die Brücken und Stege, sondern verbindend im Sinn von zusammenführen der Bewohner von Thun.

Neben den öffentlichen Inseln ist ein Flussbad vorgesehen. Ein Bad wie das Aarebedli, nur das ganze Jahr zugänglich und mit unterschiedlichen Strömungen. Durch das Bad ist es möglich rund um die Insel Julia zu schwimmen und vor der Schleuse wieder ans Trockene zu kommen. Durch die Brücke vom Brahmsquai ist das Aarebecken als Runde zu laufen: Vom Bahnhof über die Schleuse an den Brahmsquai, am Thunerhof vorbei über die Brücke, danach am Boulevard entlang zum alten Scherzlig Bahnhof, weiter auf dem Steg in die Schadau und über die Kettenfähre zurück auf die rechte Aareseite. Der Rückweg führt am Ufer entlang und wieder über die Brücke aufs Inseli, an der Villa Julia vorbei, durch den kleinen Wald und zurück zur Schleuse.


Leitidee 2

Rückeroberung vom öffentlichen Raum

Der öffentliche Raum einer Stadt ist deren Visitenkarte. Hier direkt am Bahnhof und an der Aare sollen die verschiedenen Qualitäten gestärkt werden. Das heterogene Gebiet hat sehr unterschiedliche Aufenthaltsqualitäten,

die von der Bevölkerung und der Gäste zu jeder Uhrzeit besucht werden können.


Leitidee 3

Robustes Wegnetz und flexible Strukturen

Ein starres System für die Stadträume und ein offenes System für die Nutzungen und Gebäude. Dabei definiert das starre Wegnetz die Zwischen- und Aussenräume. Die grössten Änderungen im Stadtgewebe stellen dabei die Verlegung der Seestrasse an den Gleisraum, die zwei neuen Brücken, der Scherzligsteg in die Schadau und die Bahnhofunterführung Süd dar. Diese Aussenräume sind öffentlich zugänglich und bilden das starre System, das noch in 100 Jahren sichtbar sein soll. Es bildet den Rahmen für die kontinuierliche Bebauung des Perimeters. Die Baufelder, oder die Gebäude innerhalb der Baufelder, können unabhängig vom starren Gewebe geplant und gebaut werden. Die Gebäude werden, wo Baulinien definiert sind, an den öffentlichen Raum

gebaut. Innerhalb dieser starren Struktur ist im Areal Scherzligen die Durchwegung in Längs- und Querrichtung über die Gassen möglich. Der öffentliche Freiraum muss hohen gestalterischen Anforderungen genügen. Dieser Freiraum wird in einem ersten Entwicklungsschritt in einem Rahmenplan festgehalten. Um die nötige Aneignung durch die Bewohner zu ermöglichen werden einzelne Bereiche offen gestaltet (etwa Nr. 4, 17, 18).
Das offene System der Gebäude kann und soll sich über die Jahre verändern. Flexible Strukturen meint eine Architektur, die unterschiedliche Nutzungen zulässt. Die bestehenden Gebäude sind solche flexiblen Strukturen: sie sind als Stützen-Platten-Konstruktionen erstellt und können einfach umgenutzt werden.


Leitidee 4

Identität durch Bestand

Die Wiedererkennung von gebauten Strukturen dient der menschlichen Orientierung im Raum und vermittelt das Gefühl von Sicherheit, Zugehörigkeit und Geborgenheit. Adressbildung und ein vertrauter gestalteter Rahmen schaffen Identität. So stehen Identität und der Erhalt möglichst vieler Bestandsbauten nah beisammen. Kulturelle und soziale Bindungen bleiben erhalten und können sich weiterentwickeln. Das bedeutet finanzielle, wie auch kulturelle Wertschöpfung. Neben dem bewahrenden und identitätstiftenden Charakter sind auch die ökologischen Aspekte Teil der Idee. Neben den meisten Gebäuden

werden auch die Zwischenräume erhalten und weiterentwickelt. Etwa der Raum zwischen der Rosenau und des Coopgebäudes wird weiterentwickelt und eingebunden. Der Hof beim Bierdepot, der Platz unter dem Portalkran, die Parkanlage um die Villa Julia, der Garten im Aarefeld oder der kleine Platz beim Betriebsgebäude der SBB sind wichtige Identifikationsräume, die bewahrt und freigespielt werden.


Leitidee 5

Grüner Bahnhof als globaler Konnektor

Der Bahnhof ist Schnittstelle tausender Pendler. Und er wird in Zukunft noch mehr genutzt werden. Er ist Schnittstelle zwischen Thun und der Welt und gleichzeitig Konnektor zwischen dem „städtischen Thun“ auf der Ostseite und dem „grünen Thun“ im Quartier Seefeld auf der Westseite. Diese Querung wird mit einer zusätzlichen Unterführung Süd ergänzt. Die Unterführung „Mitte“ wird verbreitert, doch nicht so wie es die SBB angedacht hat Richtung Süden, sondern Richtung Norden. Dadurch wird das zentrale Portal am historischen Bahnhof wieder zum Hauptzugang. Neu gelangt man von der Bahnhofshalle direkt in die

Unterführung und zu den Zügen. Die Seestrasse ist für den Durchgangsverkehr gesperrt, der Bahnhofsplatz wird grossräumig freigespielt und zum attraktiven, repräsentativen Stadtplatz für Fussgänger. Die Tram- und Bushaltestellen sind an den Platzkanten und der Bahnhofstrasse angeordnet. Somit bleibt der Platz frei und es entsteht eine Interaktion zwischen den Erdgeschossnutzungen und den konzentrierten Fussgängerfrequenzen der Haltestellen. Gleichzeitig wird der Kanalraum mit dem Hafen zu einem neuen Schwerpunkt des Bahnhofs, mit entsprechend hohem Nutzungs- und Verkehrsdruck.


Leitidee 6

Durchmischte, dichte Nachbarschaften

Durchmischte Nachbarschaften schaffen Homogenität und Robustheit. Dichte Nachbarschaften schaffen Diversität, soziale Kontakte und Interaktion. Die vier Nachbarschaften (mit hauptsächlich Wohnnutzungen) im ESP haben oder sollen diese Eigenschaften haben. Die Idee ist, mit kleinteiligen Strukturen und einer hohen baulichen Dichte (zwischen 1.5 und 2.1), alle Bevölkerungsschichten von Thun anzusprechen. Dabei sind die Nachbarschaften an der Bahnhofstrasse oder in der Altstadt Vorbilder. In der grössten Nachbarschaft, im Perimeter Scherzligen, werden für Thun neue Wohnformen angeboten. Durch die Lärmbelastung auf der Ostseite braucht es hier alternative Modelle. Die

Nachbarschaft funktioniert wie ein Haus. Pro Kopf gibt es 20 bis 35m² Wohnfläche, dazu eine breite Auswahl an Wohnformen. Wer gerne individuell, leicht und komfortabel lebt, macht es sich in einer kleinen 1P-Wohnung gemütlich; wer die Gemeinschaft liebt, schliesst sich einer WG an. Auch konventionelle Wohnformen wie Paar- und Familienwohnung sind im Angebot. Die Nachbarschaft ist aber mehr als nur gebauter Raum: Sie ist ein umfassendes Projekt, in dem die Menschen eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie die gemeinschaftliche Infrastruktur und Organisation.


Leitidee 7

Seestrasse: Fassade der Stadt

Die Fassade der Stadt gegenüber der Bahn ist das, was die tausenden Zugfahrenden jeden Tag von Thun sehen. In einem Intercity sitzen bis zu 1200 Personen, jede halbe Stunde fährt einer daran vorbei, hinzu kommen die Regios. Die städtebauliche Setzung nimmt die bestehende Typologie der Ausrichtung am Schifffahrtskanal auf. Die Rücksprünge ergeben einen weichen Siedlungsrand. Die Fassaden sind mit einem hohen Öffnungsanteil gehalten, trotz der starken Lärmbelastung (Güterzüge Nord-Süd Achse). Die Aussicht auf die Stockhornkette und den freien Gleisraum ist zu schön um nicht gesehen

zu werden. Die Blickbezüge vom Zug auf den Flussraum und die gegenüberliegenden Hügelzüge sind durch die offene Bauweise möglich. Im Bereich des Hafens sind die Durchsichten in einem engeren Abstand. Vom Zug aus sind die Schiffe im Kanal sichtbar. Eine Landmarke ist das Verwaltungshochhaus. Es ist von weitem sichtbar ohne dabei mit seinen 59m das Schloss zu konkurrenzieren.


Leitidee 8

Kooperative Prozesse

Eine Kooperation zwischen Eigentümer, Stadt und Nutzer ist Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Menschen mit Erfahrung als Moderatoren koordinieren die Interessen aller Seiten und vermitteln, knüpfen Verbindungen und schaffen Synergien. Beispielsweise durch das Einbinden von Zwischennutzern entsteht die Möglichkeit daraus Langzeitnutzungen zu machen die langfristig das Quartier prägen. Voraussetzung hierfür ist das Interesse der Grundeigentümer an einer langfristigen und nachhaltigen Entwicklung des Areals. Die Eigentümer profitieren, wenn die bestehende Identität weiterentwickelt wird und Menschen ihre Energie in das Projekt geben. Dieser Prozess benötigt Zeit, zu Beginn viel Aufwand und Vertrauen. Das Vertrauen soll zu Beginn in einem Stadtlabor aufgebaut werden. Für den städtebaulichen Ideenwettbewerb erarbeitet eine Kerngruppe die Ausschreibungsunterlagen.

Anschliessend findet ein städtebaulicher Ideenwettbewerb statt, bei dem die drei erstplatzierten Teams in einem Workshopverfahren weiter arbeiten können. Der daraus resultierende Sieger mit dem Zielbild einer Stadt, die mehrheitsfähig ist, startet in eine kooperative Entwicklungsphase. Die verschiedenen Themen wie Geld, Städtebau, Freiräume, Nutzungen usw. werden zusammen mit der Entwicklungsplattform und dem Stadtlabor bearbeitet. Dabei ist die Kommunikation ein wichtiger Faktor. Resultat ist ein Entwicklungsleitplan, der die Grundlage für die Zonenplanänderung ist. Anschliessend werden auf den Baufeldern Projektwettbewerbe durchgeführt. Für eine neue und innovative Form eines Stadtquartiers in Thun muss sich die Stadt auf einen iterativen Prozess einlassen.

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